Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung besitzen verschiedene Persönlichkeitsanteile mit eigenen Vorlieben und Charaktereigenschaften.
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Die dissoziative Identitätsstörung ist charakterisiert durch zwei oder mehrere Persönlichkeitszustände in einer Person, die abwechselnd Kontrolle über Gedanken, Erinnerungen und Verhalten übernehmen können.

Medizinische Expertise

Karina  Ortner

Mag.a Karina Ortner

Klinische Psychologin & Gesundheitspsychologin
Fasangasse 30/10, 1030 Wien
karina-ortner.at
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Unter einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) versteht man eine psychische Erkrankung, die die schwerste Form pathologischer Dissoziation ist. Es handelt sich um eine Abspaltung der Persönlichkeit in zwei oder mehr voneinander unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten. Sie übernehmen zu verschiedenen Zeitpunkten die Kontrolle über das Erleben und Verhalten der betroffenen Person. 

Diese Teilidentitäten haben unterschiedliche Charaktereigenschaften, getrennte Bewusstseine sowie unterschiedliche Erinnerungen, Namen oder Vorlieben. Sie können sich auch in Geschlecht, Lebensalter, Aussehen, Gemüts- und Gefühlsleben sowie Gestik und Mimik unterscheiden. Häufig treten noch andere Krankheiten auf wie zum Beispiel Amnesie, Trance und Besessenheitszustände oder das Ganser-Syndrom (unstimmige oder falsche Antworten auf einfache Fragen).

  • Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist charakterisiert durch zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände, die Kontrolle über Gedanken und Verhalten übernehmen.
  • DIS entsteht durch schwere Traumatisierungen in der Kindheit.
  • Symptome der dissoziativen Identitätsstörung sind unter anderem Identitätswechsel, Amnesie, Flashbacks, Ängste und Depressionen.
  • Die Diagnose erfordert gründliche Anamnese, klinische Bewertung, Abgrenzung von anderen Störungen und die Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche.
  • Die Behandlung umfasst Psychotherapie, Traumatherapie, möglicherweise Medikamente und Integration der Persönlichkeitsanteile.
Art psychische Störung
Ursache schwere Traumatisierungen in der Kindheit
Symptome Abspaltung der Persönlichkeit in mehrere Teilidentitäten, Amnesie, Flashbacks, Depressionen
Diagnose Anamnese, klinische Bewertung
Therapie Psychotherapie, Traumatherapie, Medikamente

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine eher selten auftretende Erkrankung. In Deutschland tritt sie im Schnitt bei 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung auf. Expert:innen gehen aber von einer höheren Dunkelziffer aus. Tendenziell betrifft die Erkrankung mehr Frauen als Männer. In den meisten Fällen ist ein schwer traumatisches Erlebnis im Kindesalter Auslöser für eine multiple Persönlichkeitsstörung. Betroffene haben oft massive körperliche Gewalt,
sexuellen Missbrauch oder extreme Vernachlässigung erlebt. 

Dieses Trauma geschieht meistens in der Phase der frühen Kindheit, also während der ersten fünf Lebensjahre. Kommt es zu einer traumatischen Situation, kann es passieren, dass sich die Persönlichkeit der Betroffenen in mehrere Teilpersönlichkeiten aufspaltet. Dieser Vorgang wird auch als Dissoziation bezeichnet. Dabei haben alle Identitäten eine bestimmte Funktion und erfüllen verschiedene Aufgaben.

Der Vorgang der Dissoziation während einer Traumatisierung ist wie ein Schutzmechanismus zu verstehen, der durch ein Trauma ausgelöst wird. Eine dissoziative Identitätsstörung entsteht dann, wenn diese Teilidentitäten bestehen bleiben und auch hervorkommen, wenn keine Gefahr besteht.

Grundsätzlich treten in einer betroffenen Person zwei oder mehr voneinander unterscheidbare Teilidentitäten oder Persönlichkeitszustände auf. Es ist üblich, dass durchschnittlich acht bis zehn Personen vorhanden sind, wobei bis zu 100 Teilidentitäten auftreten können. Solche Persönlichkeitswechsel geschehen in der Regel dann, wenn die betroffene Person unter starkem Stress steht.

Im Allgemeinen unterscheidet man zwei Formen von Teilidentitäten: 

  • Host: Die Bezeichnung Host kommt aus dem Englischen und bedeutet "Gastgeber". Unter diesem Begriff versteht man die Primärpersönlichkeit, also jene Identität, die bei der betroffenen Person am meisten vorkommt und in der Regel den Alltag meistert. 
  • Alters: Dieser Begriff wird abgeleitet von dem englischen Wort "alternate", was sinngemäß "anders" oder "verändert" bedeutet. Als Alters werden alle anderen Teilidentitäten bezeichnet, von denen Betroffene berichten.

Die Alters haben unterschiedliche Charaktereigenschaften oder Vorlieben als der Host. In manchen Fällen besteht auch die Möglichkeit, einen Wechsel von einer Teilpersönlichkeit zur anderen zu steuern. Der Wechsel kann unauffällig passieren, es können aber auch körperliche Symptome beobachtet werden. 

Oft kommt es vor, dass Menschen mit einer multiplen Persönlichkeit schwere Erinnerungslücken haben und sich nicht an vorhergehende Situationen oder Ereignisse erinnern können. Das liegt daran, dass sich Betroffene oft nicht oder nur teilweise bewusst sind, wenn ein anderer Alter nach vorne kommt. In der Folge erinnern sich Menschen mit einer DIS teilweise nicht an deren Handlungen. Zum Beispiel wissen betroffene Personen oft nicht, wie sie an einen bestimmten Ort gekommen sind oder wer sie gerade begrüßt hat. 

Weitere mögliche Symptome bei DIS:

  • Erinnerungsbilder von traumatischen Erlebnissen (sog. Flashbacks), deren Auslöser oft scheinbar neutrale Reize sind
  • Ängste und Panikattacken
  • selbstverletzendes Verhalten
  • Suizidversuche
  • Aggressionen
  • Kopfschmerzen
  • Missbrauch von Alkohol oder Drogen
  • zwanghaftes Verhalten
  • Wahrnehmung von Stimmen (der anderen Teilidentitäten)

Die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) erfordert eine gründliche Beurteilung durch qualifizierte Fachpersonen im Bereich der Psychiatrie oder Psychologie. Da DIS eine komplexe und seltene Störung ist, ist eine genaue Diagnosestellung wichtig, um eine angemessene Behandlung zu gewährleisten. 

Hier sind die Schritte, die normalerweise bei der Diagnosestellung durchgeführt werden:

  • Anamnese und klinische Bewertung: Die Fachperson führt eine umfassende Anamnese durch, in der die Symptome, die Krankengeschichte, die Familiengeschichte und die persönlichen Erfahrungen der betroffenen Person erfasst werden. Dies kann Gespräche über traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden und andere relevante Informationen umfassen.
  • Ausschluss anderer Erkrankungen: Hier geht es darum, sicherzugehen, dass keine anderen psychischen Erkrankungen vorliegen, die ähnliche Symptome aufweisen, wie z. B. Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.
  • Beobachtung der Persönlichkeitsanteile: Die Fachperson wird die verschiedenen Persönlichkeitsanteile beobachten und analysieren, die bei DIS auftreten können. Dies kann durch Gespräche, Interviews und Beobachtungen im Laufe der Zeit geschehen.
  • Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (ICD): Das ICD ist das Diagnosemanual der WHO, das von Fachpersonen im Bereich der psychischen Gesundheit verwendet wird. Es enthält spezifische Kriterien für die Diagnose von dissoziativer Identitätsstörung, die herangezogen werden können, um festzustellen, ob die Symptome der Störung entsprechen. 
  • Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen: Bei der Diagnose von DIS ist oft die Zusammenarbeit mehrerer Fachpersonen erforderlich, wie Psychiater:innen, Klinischen Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen, um eine genaue Diagnose sicherzustellen.
  • Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung: Ein wichtiger Aspekt der Diagnosestellung ist die Bewertung, wie stark die Störung die Lebensqualität und die Funktionsfähigkeit der betroffenen Person beeinträchtigt.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Diagnose von DIS eine anspruchsvolle Aufgabe ist und von erfahrenen Fachpersonen durchgeführt werden sollte. Eine genaue Diagnose ist der erste Schritt, um eine angemessene Behandlung zu planen und die bestmögliche Unterstützung zu bieten.

Behandlungsmöglichkeiten bei dissoziativer Identitätsstörung:

  • Psychotherapie/ klinisch-psychologische Behandlung: Die dissoziative Identitätsstörung wird in der Regel durch Psychotherapie behandelt. Dabei stehen verschiedene traumatherapeutische Ansätze zur Verfügung, um die Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Symptome und der Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit zu unterstützen.
  • ergänzende Behandlungsoptionen: Neben der Psychotherapie gibt es auch andere mögliche Ansätze, die je nach individuellen Umständen in Betracht gezogen werden können. Diese können unter anderem medikamentöse Therapien oder körperorientierte Ansätze sein.
  • Wahl der Behandlung: Die Entscheidung für eine bestimmte Behandlungsmethode hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen mögliche gleichzeitig auftretende Störungen (komorbide Störungen), die Art und Schwere der Dissoziation sowie individuelle Präferenzen und Bedürfnisse der Betroffenen.

Ziele der Therapie:

  • Symptomlinderung: Durch Therapie, Medikation und Bewältigungsstrategien können die Symptome von DIS reduziert werden. Dies kann dazu beitragen, dass Betroffene besser mit den Herausforderungen des Alltags umgehen können.
  • Integration der Persönlichkeitsanteile: Das Ziel vieler Therapien bei DIS ist es, eine zusammenhängende Identität zu entwickeln, indem man die verschiedenen Persönlichkeitsanteile miteinander verbindet. Dies erfordert Zeit, Geduld und eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in. Obwohl nicht alle Betroffenen diese Integration erreichen, kann sie zu einer besseren Funktionsweise führen.
  • Anerkennung der Persönlichkeitsanteile: Ein zentrales Ziel der Therapie ist es, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile anzuerkennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Durch diesen Prozess können Betroffene eine harmonischere und gefestigtere Persönlichkeit entwickeln.
  • Bewältigungsstrategien: Strategien entlasten Menschen mit DIS und tragen zu einer besseren internen Kommunikation bei. Sie sollen helfen, Verständnis und Wertschätzung füreinander zu entwickeln, denn nur wenn alle Anteile kooperieren, kann die Therapie erfolgreich sein. Eine Möglichkeit, einen besseren Zugang zu den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zu erhalten, ist das Führen eines Tagebuchs. Durch schriftlich festgehaltene Gedanken, Gefühle und Erinnerungen lernen Betroffene, ihre innere Vielfalt besser zu verstehen. Bei der Traumabearbeitung helfen Übungen wie das Deponieren von traumatischen Erfahrungen in einem imaginären "Safe" oder das Aufsuchen eines inneren sicheren Ortes.

Ergänzende Ansätze:

  • Sport und Bewegung: Regelmäßige körperliche Aktivität kann zur emotionalen Stabilisierung beitragen. Sportliche Betätigung fördert das Wohlbefinden und kann den Therapieprozess positiv beeinflussen.
  • Entspannungsverfahren: Zusätzlich dazu können Entspannungstechniken dazu beitragen, den Umgang mit unangenehmen Gefühlen zu verbessern und die allgemeine Stressbewältigung zu fördern.

Die Frage, ob eine dissoziative Identitätsstörung (DIS) geheilt werden kann, ist komplex. DIS ist eine schwerwiegende psychische Störung, bei der verschiedene Persönlichkeitsanteile auftreten, die unterschiedliche Erinnerungen, Gedanken und Verhaltensweisen haben. Die Behandlung und der Verlauf von DIS können variieren, und es gibt keine Garantie für eine vollständige "Heilung" im herkömmlichen Sinne.

Auch der individuelle Verlauf von DIS kann stark variieren. Manche Menschen erleben eine deutliche Verbesserung ihrer Symptome und ihrer Lebensqualität, während andere möglicherweise eine längere Behandlung und Unterstützung benötigen. Die Schlüsselkomponente bei der Behandlung von DIS ist eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit qualifizierten Fachleuten, um individuelle Ziele zu setzen und Strategien zur Bewältigung zu entwickeln.


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Medizinisches Review:
Erstellt am:

17. Oktober 2023


ICD-Code:
  • F44

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