Er reguliert unser Essverhalten, viele einzelne Faktoren spielen da mit. Aber man hat laut dem Präsidenten des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin, Univ.-Prof. Dr. Kurt Widhalm, noch keinen Faktor gefunden, über den man den Hunger-Sättigungs-Mechanismus nachhaltig beeinflussen könnte. Und so gibt es derzeit auch kein zugelassenes Medikament, das den Hunger respektive Appetit hemmt. Das Puzzle, warum manche weniger Hunger haben und die Sättigung sich bei anderen viel später einstellt, besteht aus vielen Steinchen und ist noch lange nicht zusammengesetzt.
Hunger- und Sättigungsgefühl führen im Idealfall zu einem Energie-Gleichgewicht. Doch auch hier ist 1+1 nicht immer 2, denn der Energie-Umsatz ist von Mensch zu Mensch verschieden. "Der eine kann ein bisschen mehr Energie abgeben als der andere, kann also mehr essen und wird nicht dicker. Das sind dann die schlechten Futterverwerter, die nehmen bei gleicher Energiezufuhr weniger zu als gute Futterverwerter", betont Widhalm. Die Evolution hat sich dabei etwas gedacht, denn: In Zeiten, in denen Nahrungsknappheit bestand, haben die guten Futterverwerter überlebt, die schlechten sind verhungert. Historisch bedingt ist unser Organismus also eher auf Mangel eingestellt. Daher dürften jene Mechanismen, die uns vor dem Verhungern bewahren, generell etwas dominanter sein.
Erst seit uns Nahrungsüberfluss überschwemmt, und das ist noch gar nicht so lange der Fall, sind die guten Futterverwerter im Nachteil. Auch das Nicht-Nein-Sagen-Können zu Schnitzel und Co liegt zum Teil in der Evolution begründet: War früher ausnahmsweise einmal mehr an Nahrung da, galt es möglichst viel aufzunehmen – man wusste ja nicht, wann man das nächste Mal wieder ordentlich zulangen könnte. Dieses Verhalten ist noch zum Teil in uns: Wir essen, essen, über den Hunger, aber morgen ist wieder so viel da. Und wir essen wieder, auch bei Sättigung, wir überessen uns oft (Hyperphagie).
Ob schlechter oder guter Futterverwerter, für beide gilt: Ist die Energiezufuhr höher als der Bedarf, bleibt dem Organismus gar nichts anderes übrig, als diesen Überschuss in Form von Fett zu speichern. Und schon "ein bisserl mehr" kann sich gewichtig auf die Waage legen. Wer jeden Tag nur um 100 Kalorien zu viel isst, muss mit plus 5 Kilogramm Körperfett am Ende des Jahres rechnen. 100 Kalorien sind aber nicht viel, etwa 3 kleine dünne Scheiben Salami oder 10 Stück Chips oder eine Scheibe Emmentaler.
Nimmt man hingegen weniger Energie zu sich als man braucht, greift der Körper zunächst auf Kohlenhydratreserven zurück, nach zwei Tagen etwa werden dann die Fettreserven angegriffen.
Auf die Frage warum manche mehr essen, gibt es etliche Antworten. Eine davon: Stark Beleibte reagieren auf Essensgerüche und Geschmack viel stärker als Normalgewichtige. Auch wenn ein Adipöser satt ist, ist Braten- oder Pizzaduft für ihn noch immer äußerst verführerisch. Warum Sättigungssignale, die vom Magen- Darmbereich ins Hirn gesandt werden, bei Dicken offensichtlich anders funktionieren als bei Schlanken, ist noch nicht wirklich geklärt.
Geklärt ist indes: Das Gehirn, und hier vor allem der Hypothalamus, spielt beim täglichen Karussell Appetit, Hunger, Sättigung und Energiebilanz eine große Rolle. Die Dehnung des Magens und Darms nach Nahrungsaufnahme wird jedenfalls an das Gehirn als Botschaft weiter geleitet. Warum hier die Meldung "satt" bei vielen nicht oder nicht stark genug ankommt, darüber gibt es einige Hypothesen. Eine davon dreht sich rund um das Protein Leptin – es wird von Fettzellen produziert und gelangt über die Blutzirkulation ins Gehirn "und ist für die Steuerung des Hungermechanismus mitverantwortlich", fügt Widhalm ein. Früher hat man geglaubt, dass ein Leptinmangel ursächlich schuld an Fettleibigkeit ist. Dem ist nicht so. Wohl führt ein Mangel zu Hungergefühlen, aber vice versa funktioniert's schon nicht mehr: Ein Überschuss dämpft nicht gleich den Appetit.
"Es gibt auch Menschen, die einen Defekt im Hungerzentrum des Hirns haben, die werden nie satt", verweist Widhalm auf einen weiteren Grund für fehlende Ess-Bremsen. Das ist beispielsweise bei Kindern mit dem Prader-Willi-Syndrom der Fall. "Sie haben keinen funktionierenden Sättigungsmechanismus, schuld ist ein Gendefekt. Der Appetit Betroffener ist einfach nicht stillbar, hier kann man auch keine Reduktionsdiät anordnen."
Es gibt noch an die 7 bis 8 weitere Defekte an einem einzelnen Gen, die für ausgeprägtes Hungergefühl ohne Sättigungserlebnis verantwortlich sind.
Ein Medikament und gleichzeitig natürliches Körperhormon, das das Appetitzentrum anregt, ist das allseits bekannte Insulin. Wer Kuchen oder Weißbrot mit Marmelade frühstückt, wird bald wieder Hunger haben. Denn: Diese Lebensmittel haben leicht resorbierbare Kohlenhydrate, die die Insulinausschüttung stimulieren, und das löst Hungergefühle aus. Auch süße Limonaden werden durch diesen Mechanismus zu Hungerlockern. Am längsten und stärksten sättigend ist übrigens Eiweiß (Fisch, Käse und Fleisch). Das aber mager, denn Fett sättigt nicht lange. Und Alkohol wiederum regt das Hungerzentrum an. Hingegen senkt körperliche Betätigung den Insulinspiegel, ist also eher ein Appetitverderber, im positiven Sinn des Wortes.
APPETITANREGER | APPETITBREMSE |
---|---|
Alkohol, Limonaden | Wasser |
Noradrenalin (z.B. durch Stress) | Noradrenalin (z.B. durch Stress) |
Kuchen | |
Weißbrot | |
Marmelade |
Auch Wasser kann den Hunger einbremsen. Widhalm: "Wenn man vor dem Essen ein großes Glas Wasser trinkt, ist der Magen zumindest teilweise gefüllt. Er leitet entsprechende Signale ans Hirn weiter. Die meisten Menschen essen dann weniger, die Energiezufuhr wird reduziert."
Doch das interne Körpernetzwerk um hungrig und satt ist noch viel komplizierter. Stichwort Stress: Manche werden zu "Stressfressern", andere bekommen in stressigen Zeit nichts hinunter oder vergessen aufs Essen. Grund: Das Stresshormon Noradrenalin zum Beispiel kann die Nahrungsaufnahme sowohl stimulieren als auch eindämmen. Das hängt davon ab, an welchen Rezeptor (Empfänger) sich dieser Signalüberträger bindet (Signalüberträger werden von Nervenzellen freigesetzt und docken an bestimmte Bindungsstellen an).
Neben Genen, Hormonen, Bakterien und anderen endogenen Faktoren spielen bei der Nahrungsaufnahme auch die Umwelt, das soziale Umfeld, die persönliche Stimmung, die Werbung, Gerüche eine Rolle. "Wer in einer Familie aufwächst, in der deftig gegessen wird, wird sich auch eher diese Ernährung auswählen", weiß Widhalm. Und wer mit Werbung zu Süßem oder Fleischigem konfrontiert wird, reagiert – und zwar mit vermehrter Esslust. Appetitsteigernd sind freilich auch die allgegenwärtigen und verführerische Gerüche ausströmenden Pizza-, Bäckerei- und Wurststandln. "Die ständigen Verlockungen, die stete Verfügbarkeit von Essen sind schon ganz wesentliche Faktoren, die unsere tägliche Ernährung beeinflussen." Man ist zwar satt, aber riecht, sieht, kauft und isst. Freilich spielen die fortwährenden kulinarischen Verlockungen dem gesunden Sättigungsgefühl einen Streich.
Und zu guter Letzt kommt auch die Psyche ins Spiel: Wessen Seele vor Kummer weint, der kann Kummerspeck ansetzen oder sorgenschlank werden – essen oder hungern ist nämlich auch eine Frage der Seele. Und die ist ein eben so weites Feld wie die überaus komplexen Hunger- und Sättigungsmechanismen in unserem Organismus.